Zwischen Spannung und Vertrauen – wie das Halten von Polaritäten echte Gemeinschaft schafft
Christof Suppiger · Erfahrungen mitten im Seminar Prinzipien der IP in Bern · 1. Oktober 2025
Demokratie, Teams und Beziehungen leben von Polaritäten. Erst wenn wir sie nicht mehr auflösen, sondern bewusst tragen, entsteht Resonanz. Ein Essay über Mut, Zuhören und das Üben von Vertrauen mitten im Chaos.
Wir sprechen oft von der „Spaltung der Gesellschaft“ – als drohendem Zerfall. Doch was, wenn Spaltung nicht das Problem ist, sondern der Anfang von etwas Neuem? Wenn das, was wir als Chaos erleben, die Voraussetzung für Vertrauen, Verbindung und gemeinsame Verantwortung ist?
Polarisierung ist kein Fehler – sie ist Struktur
Der Soziologe Nils C. Kumkar zeigt: Die viel beschworene „Spaltung“ ist häufig ein Beobachtungsfehler. Nicht die Haltungen driften auseinander – unsere Aufmerksamkeit betont Unterschiede stärker.
„Die Frage ist nicht, ob wir spalten, sondern wie produktiv wir spalten.“ – Nils C. Kumkar
Demokratie lebt von Spannung: Regierung und Opposition, Mehrheit und Minderheit. Das sind tragende Fugen, keine Risse. Problematisch wird es, wenn wir Differenzen moralisch aufladen – dann kippt Spannung in Feindseligkeit.
Wenn Polarisierung zur Waffe wird
Hier liegt die Grenze zwischen produktiver Differenz und populistischem Machtspiel. Populistische Rhetorik reduziert Komplexität auf Feindbilder – „Wir hier unten gegen die da oben“, „das wahre Volk gegen die Eliten“. Sie imitiert demokratische Unterscheidung und macht daraus Ausgrenzung: Zugehörigkeit durch Angst, Identität durch Schuldzuweisung. „Populistische Kommunikation lebt vom Missbrauch der Spaltung – sie verspricht Heilung durch Schuldzuweisung.“ Was als Selbstermächtigung beginnt, endet in kollektiver Regression: Statt Dialog entsteht Daueralarm. Die Kunst besteht darin, diese Dynamik zu erkennen – und ihr Räume der Reifung entgegenzusetzen.
Chaos gehört dazu – Scott Peck und die Leere
In Gemeinschaftsbildungsprozessen nach Scott Peck folgt auf die Pseudo-Harmonie das Chaos: Meinungen prallen aufeinander, alte Wunden tauchen auf, Führung wird infrage gestellt. Das ist unbequem – und notwendig.
„Gemeinschaft beginnt dort, wo wir die Illusion aufgeben, gleich sein zu müssen.“ – Scott Peck
Chaos ist Spiegel, nicht Störfall. Wer ihn aushält, erreicht die Leere: Verteidigung fällt weg, Zuhören wird möglich. Vertrauen entsteht nicht durch Sieg, sondern durch Hingabe.
Konflikte führen – nicht vermeiden
„Nicht jeder Konflikt braucht Frieden. Mancher braucht zuerst Wahrheit.“ – Klaus Eidenschink
Manche Situationen verlangen Deeskalation – andere bewusste Eskalation, um Verborgenes sichtbar zu machen. Sinnorientierung heißt: entscheiden, wann Wahrheit oder Beziehung Vorrang hat. Die Verbindung: Kumkars Struktur, Pecks Tiefenprozess, Eidenschinks Handwerk – wir müssen Spannung halten lernen.
Vom Verstricktsein zur Resonanz – innere Freiheit üben
Meine Lernspirale in Anlehnung an Barbara Küchler, Weil es so nicht weiter geht (2025, Vahlen):
1. Erkennen – Ich bemerke den Einflussring.
2. Benennen – Ich gebe Sprache, auch mit Humor.
3. Anhalten – Pause. Nicht-Wissen aushalten.
4. Distanzieren – Muster statt Wesenskern sehen.
5. Neu orientieren – Beziehung vor Position.
6. Integrieren – Konflikt als Übungsfeld.
„Einheit entsteht nicht durch Gleichheit, sondern durch das bewusste Halten des Widerspruchs.“ – Christof Suppiger
Machtbewusstsein – Präsenz statt Reaktionspflicht
Persönlich: weniger reagieren, mehr aus Präsenz handeln.
„Macht ist keine Sache, die ich habe oder verliere – sie darf durch mich fließen.“
Zwischenmenschlich: Einflussringe früh erkennen und ohne Dominanz unterbrechen.
„Den Kreis halten: nicht fliehen, nicht kämpfen – anwesend bleiben.“
Gesellschaftlich: Verantwortung übernehmen, ohne zu überfahren.
„Bewusste Macht erlaubt Entscheidungen, ohne Menschen zu verlieren.“
Stimmen aus der Praxis
„Ich habe am Samstag mein persönliches Drama ausgebreitet – und doch merkte ich, dass es nicht wirklich mein Thema war. Ich sprach aus Angst vor der Leere, nicht aus meiner Tiefe.“ – Teilnehmerin
„Ich stand im Loyalitätskonflikt: Soll ich der Gruppe treu bleiben oder meiner eigenen Wahrheit? Es fühlte sich an, als würde ich mich selbst verraten.“ – Teilnehmer
„Ich war so verstrickt, dass ich nur noch reagieren konnte. Erst in der Stille spürte ich, dass ich aussteigen darf – ohne zu fliehen.“ – Teilnehmerin
Und ich selbst schrieb in mein Notizbuch:
„Nicht auf der Bühne, sondern hinter den Kulissen habe ich manchmal mitgespielt – wenn ich müde urteilte, statt Verbindung zu suchen. Genau dort beginnt Spaltung. Genau dort beginnt auch mein Lernen.“
Spiegelräume – meine Erfahrung als Facilitator in Workshops nach Scott Peck
Leitungsteam und Gruppe spiegeln sich: Pseudo hält Pseudo, Chaos spiegelt Chaos. Erst wenn das Leitungsteam Leere zulässt, kann die Gruppe transformieren. Die Qualität des Leitungsteams bestimmt die Resonanztiefe, die für die Gruppe möglich wird. Leitung (hier Facilitation) beginnt mit Selbstführung – nicht mit Kontrolle.
Gemeinschaft wagen – ein Übungsfeld für produktive Spannung
„Gemeinschaft wagen – Zuhause im Widerspruch“ eröffnet Räume – Stammtische und Partizipartys –, in denen wir üben: zuzuhören, Widersprüche zu halten, Vertrauen jenseits von Lagerdenken zu bilden. Keine Therapie, keine Talkshow – soziale Übungsfelder.
„Gemeinschaft ist Praxis – einatmend Chaos, ausatmend Vertrauen.“
Fazit – Vom Rechthaben zum Resonanzhalten
Konflikte sind Trainingspartner. Werden sie geführt statt vermieden, verwandelt sich Spaltung in Reifung. Kumkar liefert den Rahmen, Peck die Tiefe, Eidenschink das Handwerk, Küchler die innere Spirale – und in unseren Formaten wird es gelebt.
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📅 Termine & Orte
👉 christofsuppiger.org/termine
- Workshops für Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck https://gemeinschaftsbildung-schweiz.ch/ https://communitybuilding.com/ in Steckborn, Wien
- Stammtische mit Partizipartys: Kennenlernen. Zuhören. Verbinden. Musik. Widerspruch. Gemeinschaft.
A) Für das Gelingen des Workshops ist es erforderlich, dass TeilnehmerInnen von Beginn bis Ende anwesend sind. Sollte Dir dies nicht möglich sein, wende Dich bitte vor der Anmeldung an die Veranstalter.
B) Der Workshop dient der Persönlichkeitsbildung und bietet intensive Lernerfahrungen. Das kann unter Umständen emotional herausfordernd sein. Solltest Du in psychotherapeutischer Behandlung sein, bitten wir Dich, mit uns Kontakt aufzunehmen.